text-Essay
Theresia Stipp: Educational Sidekick? Oder: Was Kunst in der Klasse für die Vermittlung bedeutet. KVL Bulletin. 2020.

Kunst in der Klasse stellt die Vermittlung auf den Kopf. Normalerweise ist die Schulklasse in der Kunstinstitution zu Gast. Das Kunstwerk ist bereits da und wartet auf ihren Besuch. Es ist meine gewohnte Umgebung als Kunstvermittlerin und ein fremder Ort für die besuchende Klasse. Ich kenne das Kunstwerk bereits. Meine Aufgabe ist es, eine Brücke zwischen Kunstwerk und Klasse zu bauen und die Klasse mit dem Kunstwerk ins Gespräch zu bringen.

Diese Grundvoraussetzungen der Kunstvermittlung hebelt Kunst in der Klasse aus. Nun bin ich zu Gast, nicht allein, sondern gemeinsam mit der Kuratorin und den eingeladenen Künstlerinnen. Die Schülerinnen und die Kunstlehrerin sind am gewohnten Ort und warten auf uns. Und vor allem: Das Kunstwerk ist noch nicht da. Ich kenne das Kunstwerk noch nicht und bin somit auf demselben Wissensstand wie die Schüler*innen. Worüber also sprechen?

Kunst in der Klasse bietet die seltene Möglichkeit, mit dem Davor des Kunstwerks in Kontakt zu treten. Anders als in der klassischen Kunstvermittlung wird hier erfahrbar gemacht, was existiert, bevor das Kunstwerk seine physische Form angenommen hat. Gemeinsam mit den Schülerinnen, der Kuratorin, der Kunstlehrerin erhalte ich einen Einblick in den Entstehungsprozess und die Fragen und Vorstellungen der Künstlerinnen. Die Aufgabe der Vermittlung ist es folglich, den Weg für die Ankunft des Kunstwerks zu ebnen und seine Anwesenheit zu begleiten. Denn das Kunstwerk ist nicht nur Gast, sondern auch Eindringling und Störung im Klassenraum. Es geht darum, eine neugierige Offenheit als Rezeptionshaltung zu ermöglichen. Die Vermittlung ist hier nicht Brücke zwischen Kunstwerk und Klasse, sondern Mediator zwischen allen Teilnehmenden. Sie spannt ein Netz zwischen Schülerinnen, Künstlerin, Kuratorin und Lehrerinnen und bringt diese ins Gespräch.

Für Paula Löfflers Arbeit criminal sidekick wurden für das Davor des Kunstwerks drei Termine entwickelt, die zur Eröffnung und Ankunft des Kunstwerks hinführten. Die Schülerinnen sollten (und wollten selbst) in den Entstehungsprozess des Kunstwerks eingebunden werden. Dabei ging es nicht darum, an der Herstellung des Kunstwerks mitzuwirken. Das ist die Aufgabe der Künstlerin. Vielmehr sollten die Schülerinnen in den Gedankenraum des Kunstwerks und die Fragestellung der Künstlerin eintreten.

Die Leitung der Unterrichtsstunden übernahm die Künstlerin Paula Löffler, die sich bei einem ersten Treffen vorstellte und erste Entwurfszeichnungen für ihre Arbeit mit dem Titel criminal sidekick zeigte, um anschließend alle Beteiligten mit Quizoola als Kennenlernspiel in Kontakt zu bringen. Für das zweite Treffen stellte Paula der Klasse eine Aufgabe, die praktisch umzusetzen war: „Du findest etwas – einen Zeitungsartikel, einen Tagebucheintrag, ein Video… – aus dem Jahr 2085.“ Hier wird die paradoxe Idee einer zukünftigen Vergangenheit, die in die Gegenwart einschlägt, aus Löfflers eigener Arbeit praktisch erfahrbar. Die Schülerinnen entwickelten (oft dystopische) Videos, Texte, Zeichnungen, einen Radiobeitrag, eine Erfindung, die als Werbetext vorgestellt wurde. Die Zukunft stellen sich die meisten Schülerinnen als vom Menschen durch Kriege oder Umweltverschmutzung zerstörte vor.

Das dritte Treffen ist der Tag der Eröffnung. Die Schülerinnen hatten sich – angeregt von der Kunstlehrerin – zuvor in Gruppen, wie „Interviews“ oder „Dokumentation“ aufgeteilt und damit Teilverantwortungen der Eröffnung übernommen. Während die Künstlerin sich auf ihre Performance vorbereitet, sind die Schülerinnen mit Fotografieren, Wegweiser verteilen, Getränke und Snacks vorbereiten, etc. beschäftigt. Die Performance beginnt. Die Schüler*innen sind dabei. Tauschen ihre mitgebrachten Pflanzen ein. Schauen zu. Um 11:35 verschwinden sie, die Pause ist vorbei – die Performance eigentlich noch nicht. Wieder wird deutlich, dass das Kunstwerk in der Schule zu Gast ist.

Auf das Davor des Kunstwerks folgt das Währenddessen. Die Schülerinnen haben bereits eine Woche mit dem Kunstwerk gelebt, als wir uns erneut treffen, um die Eröffnung zu reflektieren. Im Nachgespräch werden erste Erfahrungen mit dem Kunstwerk und Erinnerungen an die Performance ausgetauscht. Die Schülerinnen fühlen sich in das Kunstwerk einbezogen. Sie durften bei der Eröffnung mithelfen. Das Pflanzen-Eintauschen wird positiv erwähnt. Es wird stolz berichtet, wie Außenstehende die von der Straße zu sehende Beleuchtung des Klassenraums bewundern. Jemand hat das sogar fotografiert und auf WhatsApp geteilt. Es werden Verständnisfragen gestellt („Ist das jetzt ein Wintergarten oder so was?“), negative Kritik („es ist etwas eng“) und positive Kritik geäußert („Mir gefällt, dass das Kunstwerk nicht so eindeutig ist. Man kann sich viele Gedanken dazu machen“).

Genau hier beginnt nun der zweite Schritt der Vermittlungsarbeit. Es gilt die Erfahrungen der Schülerinnen zu stärken, zu vertiefen, zu begleiten. Und schließlich, den Abschied vom Kunstwerk vorzubereiten. Dazu entwickeln wir im Team zwei weitere Treffen mit der Klasse, das erste geleitet von Paula Löffler, das zweite von mir. Es geht um eine Vertiefung zweier Aspekte der Arbeit: die Bedeutung von Text und Sprache und die Materialität des Objekts. Für das erste Treffen bringt die Künstlerin fünf Fragen aus ihrer Performance mit. Sie werden ausgedruckt im Raum verteilt, die Schülerinnen wählen Fragen aus und beantworten sie in praktischen Arbeiten (Abb.):

  • Wenn Europa ein Tier wäre, wie würde es aussehen?
  • Welche Pflege bräuchte es? Wie sieht sein Lebensraum aus?
  • Gibt es eine Sprache des Tieres, die du verstehst?
  • Hat es eine spezielle Fähigkeit? Was kann es? Wie alt kann es werden?
  • Wenn du ein Tier wärst, wie würde es aussehen?

Paula Löffler bringt außerdem Nagellack mit und bietet an, den Schülerinnen die Nägel zu lackieren Neben der Hinterfragung von Gender-Stereotypen, die in Löfflers Arbeit virulent ist, geht es hier auch darum, die schulische Distanz zwischen lehrende Einzelperson und Gruppe zu durchbrechen. Nagellackieren erzeugt Nähe. Und tatsächlich entstehen neben der praktischen Arbeit kleine, intimere Gespräche zwischen Künstlerin und Schülerinnen. Das Treffen endet mit der Vorstellung der entstandenen Arbeiten der Schüler*innen und der Verabschiedung der Künstlerin.

Im letzten Treffen möchten wir uns die Arbeit ein letztes Mal genau anschauen. Wir räumen die Tische an die Wand, um Platz zu schaffen und damit eine neue Perspektive auf das Kunstwerk einzunehmen. Denn nach zwei Monaten der Präsenz der Installation im Raum, ist sie schon fast zum Inventar des Klassenraums geworden. Ich stelle zwei Zeichenaufgaben, die ich mit der Kunstlehrerin erarbeitet habe:

  • Zeichne einen Ausschnitt des Kunstwerks, wie ihr ihn bis jetzt noch nie gesehen habt.
  • Stellt euch vor, ihr seid das Wesen, für das das Diorama in eurem Klassenraum gebaut wurde. Was seht ihr?

Es entstehen unter anderem eine schwarze Zeichnung, da das Wesen die Augen geschlossen hat, eine Zeichnung der Klassenzimmerdecke und ein Nahblick durch die Pflanzen in den Klassenraum.

Ist uns die Vermittlung zu Paula Löfflers Arbeit criminal sidekick gelungen? Was werden die Schüler*innen von ihren Erfahrungen mit der Arbeit mitnehmen? Der experimentelle, prozessuale Charakter des Projekts lässt kein endgültiges Fazit zu. Denn hier wurden gemeinsam Erfahrungen gemacht. Hier wurde ein Prozess, ein Davor, ein Währenddessen, ein Danach, gemeinsam erlebt. Eigentlich sind wir noch mittendrin.

Theresia Stipp ist Kunstvermittlerin und war Begleiterin des Projektes „Kunst in der Klasse“.

Kunst in der Klasse ist ein Kooperationsprojekt der IGS-Langenhagen und des Kunstverein Langenhagen. Über ein Dreivierteljahr wird der Klassenraum einer 10. Klasse zum Ausstellungsraum und Satellit des Kunstvereins. Drei Künstlerinnen werden nacheinander eingeladen, im Klassenraum eine künstlerische Arbeit zu realisieren. Zur Vor- und Nachbereitung gibt es mehrere Treffen zwischen Künstlerinnen und Klasse im Rahmen des Kunstunterrichts.