Gloria Zein im Gespräch mit Prof. Roberto Nigro, Leuphana-Universität Lüneburg am 18.09.2019
GZ: Du hast Dich eingehend mit Foucault beschäftigt, besonders mit seinem wegweisenden Werk Überwachen und Strafen, das auch mich als Studentin sehr geprägt hat. Darin geht es, wenn ich jetzt mal stark verkürze, um die Analyse von Machtstrukturen anhand der Geschichte von Disziplinierung bzw. Erziehung in den westlichen Gesellschaften. Vor diesem Hintergrund möchte ich gerne mit einer grundsätzlichen Frage beginnen: Was ist eine Schule?
RN: Die Schule ist eine Bildungsinstitution. Wir sollen die Evidenz ernst nehmen. Eine Schule bildet Schüler*innen, bildet Menschen, macht Menschen zu Subjekten – und nicht nur zu Subjekten, sondern auch zu Erkenntnissubjekten. Wir kommen als Menschen auf die Welt, aber dann werden wir zu Subjekten bzw. zu Individuen. Diese Individuation, dieses Werden geht über Prozeduren: Rituale, Strafen, Prämien, Bildung. Die Schule ist eine Institution, die Menschen zu Subjekten macht. In diesem Sinn ist sie eine „gute“ Institution, weil sie eine Transformation ermöglicht, Lernen, Erkenntnisse, Wissen produziert. Selbstverständlich könnte man sich fragen, welche Erkenntnisse übermittelt werden. Ist das Wissen, das produziert und übermittelt wird, nutzbar, sinnvoll? Und für wen? Ausgehend von den unterschiedlichen Antworten, die wir auf diese Fragen geben, können wir die Schule als eine „gute“ oder auch eine „schlechte“ Institution interpretieren.
In der Schule sind Rituale involviert, die nicht unbedingt schlimm sind. Disziplinierung bedeutet einfach, dass Kinder jeden Morgen z.B. um halb acht in der Schule sein müssen. Und in Deiner Ausstellung geht es auch um Augen. Die Kinder werden ständig kontrolliert. Die Diskurse, so wie sie reden müssen, werden selektiert, ausgewählt, formiert. Das hat auch mit Zwang zu tun. Es ist nicht in meine Natur eingeschrieben, in die Schule zu gehen. Ich muss, auch wenn ich nicht möchte, bis zum Alter von 16 Jahren die Schule besuchen. Das ist aber auch notwendig für unsere Gesellschaft, weil wir als gebildete Subjekte produziert werden.
Andererseits kommt unsere Ausbildung nie zum Schluss, weil eine ständige Formation stattfindet. Wir werden ständig gefragt, weitere Kurse zu besuchen, weitere Kompetenzen zu erwerben. Es könnte klingen, als ob ich das Schulsystem kritisieren möchte. Aber es ist nicht so. Ich möchte nur zeigen, dass diese Prozesse nichts mit der Natur der Menschen zu tun haben. Sie sind soziale Prozesse.
Die Schule ist eine moderne Erfindung, obwohl die Idee der Bildung alt ist. Es gibt sie als „Paideia“ (Erziehung, Bildung) auch bei den Griechen. Die Universität ist eine Institution des Mittelalters. Aber die Schule als Institution wie wir sie heute kennen, ist eine Erfindung der Moderne.
Foucaults Analyse fokussiert nicht direkt auf die Schule. Aber er untersucht Strukturen oder Institutionen, die durch Disziplinen funktionieren. Sein Fokus war insbesondere auf dem Gefängnis. Das nimmt nun eine Dimension an, die vielleicht ein bisschen böse ist. Man könnte sagen, die Schule ist in gewissem Sinn auch wie ein Gefängnis: Auch dort gibt es Räume, in denen die Schüler*innen gezwungen sind zu bleiben. So geht es auch um eine Form von Kontrolle der Freiheit.
GZ: Bei der Analogie von Schule und Gefängnis denke ich daran, wie Foucault das Gefängnis beschreibt als Ort, an dem die Menschen erzogen, bzw. umerzogen werden. Sie werden nicht mehr gevierteilt, ihnen wird nicht mehr die Hand abgehackt, weil sie gestohlen haben. Sondern sie werden in das Gefängnis gesperrt, um dort verbessert zu werden. Aus der Schule sollen wir ja auch verbessert herauskommen.
RN: Ja! Natürlich erfüllt die Schule auch viele kleinere Funktionen. In unserer Gesellschaft bedeutet die Schulpflicht, dass die Eltern frei sind. Sie können arbeiten gehen. Ganz wichtig ist aber auch der Aspekt der Kenntnisse und Erkenntnisse, die in der Schule produziert werden. In einer Welt, wo Information so zentral geworden ist, wo es sehr schwierig ist, ohne Information, ohne Wissen und Erkenntnis zu leben, spielt die Schule eine wichtige Rolle. Analphabetismus produziert Armut und Unterwerfung. Mit Wissen kann man sich emanzipieren. So hat das Wissen – und damit die Schule – auch eine befreiende Funktion.
Was aber auch ganz wichtig ist, ist die ständige Kontrolle der Haltung, der Geste. Das hat zu tun mit der Zivilisation. Auch zu Hause lernt man, wie man essen soll. Wenn wir Nietzsche paraphrasieren wollen, können wir sagen, Menschen entfernen sich von ihrer Tiernatur durch Disziplinen – durch Strafen und Belohnen. Dazu gehören neben der Schule auch andere Institutionen, wie die Armee, die Kirche, Krankenhäuser, das Gefängnis, und auch die Familie – um einige zu nennen, deren Funktion ist, Menschen zu Subjekten zu machen.
Was noch interessant ist in dem Diskurs von Foucault und auf Deutsch etwas schwierig zu begreifen ist: In diesem Wort „Subjekt“ gibt es zwei Elemente, die eng verbunden sind. Subjekt, sujet, ist für Foucault auch assujettissement, und das bedeutet „Unterwerfung“. Die Subjektwerdung beinhaltet also auch die Unterwerfung. Hier kommen beide Pole zusammen. Die repressive Form der Macht – die Schule ist eine Machtinstitution, die Tatsache, dass ich in die Schule gehen MUSS, diese Unterwerfung produziert auch eine Erkenntnis. Und diese Erkenntnis ist verkörpert. Das Wissen ist nicht mehr von mir getrennt. Ich bin dieses Wissen. Was ich damit meine: Ich rede jetzt als Philosoph, bin aber nicht als Philosoph zur Welt gekommen. Durch Bildung werde ich dazu. Ich verkörpere jetzt diesen Diskurs. Das ist die Funktion der Schule. Nicht zu vergessen, die Rollen, die die verschiedenen Akteure dort spielen. Natürlich gibt es in der Schule auch die Hierarchisierung zwischen Lehrerinnen und Schülerinnen.
Und vielleicht sollten wir uns auch fragen, ob das Modell, das wir so beschreiben, noch ein aktuelles Modell ist. Die Institution hat sich stark geändert. Die Schule wird zerstört von neoliberalen Praktiken.
GZ: Ich habe mich tatsächlich ebenfalls gefragt, wie die Schule sich seit Überwachen und Strafen (1975) verändert hat. Ich hatte eher in Richtung pädagogischer Neuerungen gedacht, die seit den 1968er Jahren entstanden sind, also Versuche, Hierarchisierungen aufzuheben oder alternative Unterrichtsmodelle zu erproben. Aber wenn Du von neoliberalen Praktiken sprichst, ist das nochmal ein ganz anderer Blick auf die Schule, bei dem es vielleicht nicht so sehr darum geht, was innerhalb der Schule passiert, sondern was ihre gesellschaftliche Funktion ist. Also hat sie sich in verschiede Richtungen verändert?
RN: Klar. Ich muss noch einmal sagen, dass die Schule nicht zentral ist bei Foucault, aber es ist interessant, seine Forschungen zu nutzen, um solche Institutionen wie die Schule zu analysieren. Die Schule als Institution war historisch ein Ort, von dem bestimmte Subjekte ausgeschlossen worden sind. Die Frauen zum Beispiel. Meine Mutter war nicht in der Schule. Sie war ausgeschlossen von diesem System. Mit der Exklusion findet auch eine besondere Unterwerfung statt. Es geht um einen Kampf um die Schule. Ich glaube, dass im 20. Jahrhundert eine große Transformation stattgefunden hat – vielleicht um 1968, aber nicht nur – wo besondere Subjekte, die ausgeschlossen waren, einen Zugang zur Schule gefunden haben. Hier hat die Schule noch eine Rolle der Grenze gespielt. Ich bin konfrontiert mit einer Kultur, die nicht meine ist, die ich aber assimilieren muss. So gibt es immer einen Kampf um diese Grenze, die die Schule repräsentiert. Es ist vielleicht banal zu sagen, dass dieser Zugang sehr wichtig ist. Nun stellt sich folgende Frage: Welche Formen der Erkenntnisse sind heute zentral und durch welche Prozeduren, Verfahren werden sie mitgeteilt? Hat die Schule noch die Funktion, die sie vor Jahrzehnten hatte, oder gibt es Transformationen? In den USA z.B. gibt es private Systeme, zu denen nur einige Zugang haben, andere sind ausgeschlossen. Auch in Europa gibt es Regionen, wo in einer Klasse 30 bis 40 Schülerinnen sitzen, in anderen nur 15 Schülerinnen. Das macht natürlich auch einen großen Unterschied im Zugang zu Wissensformen. Die Hierarchisierung oder Aufteilung des Reichtums in der Gesellschaft wird in besonderen Formen durch die Schule reproduziert.
GZ: In der Schule wird ja einerseits Wissen vermittelt, z.B. das Alphabet, andererseits auch eine Haltung oder eine Form von Selbstbewusstsein.
RN: Ja, eine Form von Sozialität.
GZ: Ich kann Abitur oder mittlere Reife von zwei unterschiedlichen Schulen haben und mit ganz anderem Selbstbewusstsein in der Welt stehen. Könntest Du nochmals erläutern, was „Erkenntnissubjekte“ sind?
RN: Wenn ich von meinem eigenen Beispiel ausgehe, gibt es einen Korpus, ein Material, das wir Philosophie nennen können. Um Philosoph zu werden brauche ich eine Konfrontation, die jahrelang stattfindet. Das ist nicht nur eine Konfrontation mit einem Objekt, das außerhalb von mir ist, sondern ich muss dieses Objekt auch verkörpern. Und in diesem Sinne wird ein Erkenntnissubjekt produziert. Die Philosophie ist jetzt – es ist etwas komisch, das zu sagen – in meinem Herzen, sie ist Teil meiner Subjektivität. Das Subjekt – statt Individuum oder Person – ist nicht nur der Mensch. Es ist auch mein Diskurs in diesem Moment, ein Diskurs, der auch der Diskurs der Philosophie ist. Aber die Philosophie ist auch die Philosophie von anderen Leuten. Und in diesem Sinn bin ich als Subjektivität eine Multiplizität, weil ich auch alle die Diskurse bin, die ich in diesem Moment – auch über mich ¬– ausdrücke. Und das gilt genauso für andere Berufe. Das heißt, die Erkenntnis ist Teil meiner Subjektivität.
Wir können das auch auf produktive Subjekte übertragen. In dem Moment, wo ich arbeite und Fähigkeiten habe, diese Arbeit zu machen, heißt das auch, dass ich diese Fähigkeit verkörpere – und den Zwang, zu arbeiten.
GZ: Ich bin Teil des Zwanges.
RN: Ja, ja!
GZ: Vor diesem Hintergrund habe ich eine andere Frage: Die Schule ist ja auch ein Ort des Gehorsams. Seit einem Jahr finden weltweit Demonstrationen von Fridays for Future statt. Diese Bewegung der Schülerinnen und Schüler, die z.T. die Schule schwänzen, um zu diesen Demonstrationen zu gehen – was ihnen von einigen vorgeworfen wird, ist ja auch eine Form des zivilen Ungehorsams, nämlich derjenigen, die gleichzeitig den Gehorsam verkörpern. Was bedeutet es für die Gesellschaft jenseits von den inhaltlichen Zielen der Demonstrationen, wenn die Schülerinnen und Schüler als Zeichen ihres Protestes während der Unterrichtszeit ihre Körper auf die Straße tragen...
RN: Ich glaube, Gehorsam ist sicherlich im Mittelpunkt dieses Systems oder im Mittelpunkt der Ontologie der westlichen Zivilisation. Ohne Gehorsam wäre das Gebäude unserer Zivilisation unmöglich gewesen. Ich sage das nicht in einem positiven oder negativen Sinn ¬– vielleicht ein bisschen mehr in einem negativen oder kritischen Sinn. Aber was ich damit meine: Ohne Gehorsam könnte dieses System nicht noch eine Minute bleiben. Er ist zentral.
Erkenntnisse und Wissen sind wichtig, aber es ist genau diese Haltung des Gehorsams um des Gehorsams Willen, die bedingt, dass die Funktion des Gehorsams als Teil der Subjektivität akzeptiert wird. Gehorsam ist zentral für die Entwicklung der Möglichkeit selbst der Gesellschaft, weil er nicht in die Natur des Subjektes eingeschrieben ist. Er ist artifiziell. Man muss diese Haltung, dieses Benehmen produzieren. Deswegen findet natürlich auch ständig ein Widerstand statt. Man kann, man will das Leben immer kontrollieren, regulieren, aber man schafft es nicht vollends. Es gibt immer einen Widerstand des Lebens. Das ist das, was in unserer Kultur auch unter dem Wort „Kritik“ steht. Kritik spielt ebenfalls diese Funktion des Ungehorsams. In diesem Sinne glaube ich, dass die Schüler*innen in verschiedenen Formen immer eine wichtige Tendenz des Ungehorsams gespielt haben. Ich freue mich sehr, dass diese neue Generation – im Vergleich auch mit meiner – die Frage nach der Ökologie und Umwelt so zentral macht. Und natürlich ist diese Haltung eine widerständige Haltung, die verschiede Mächte versuchen zu leiten, zu regulieren, anzuordnen. Es gibt immer Aktionen und Reaktionen.
GZ: Wenn ich die Produktion von Wissen an der Schule zulasse (statt der bloßen Vermittlung von bereits bestehendem Wissen), dann können die Jugendlichen Schlüsse ziehen aus dem was ihnen beigebracht wird, die bestimmte Leute nicht gerne hören möchten. Ich habe den Eindruck, da kommen zwei verschiedene Ängste auf bei denjenigen, die eigentlich die Herrschaft oder Kontrolle haben – einerseits die Angst vor unkontrollierter Wissensproduktion, also vor der Infragestellung bestehender Diskurse, und andererseits die Angst, das System könnte durch den Ungehorsam an sich außer Kontrolle geraten. Ist unsere Gesellschaft diesbezüglich in einem wichtigen Moment? Oder ist das jetzt zu weit gedacht?
RN: Es gab auch in anderen Zeiten immer Elemente, die dringend waren. Jetzt sind wir allerdings mit Transformationen konfrontiert, die ganz schnell gehen. Z.B. die digitale Transformation, die unsere Sprache und Haltung stark geändert hat, jeden Tag in jedem Moment. Und die Schule ist damit auch konfrontiert.
Vielleicht sollten wir ausdifferenzieren, ob wir von der Schule sprechen oder von der Universität. An der Schule werden Grunderkenntnisse vermittelt. Auf der Ebene der Universität kommt die Forschung als Produktion von neuen Erkenntnissen oder von Wissen. Dabei gibt es einen gap zwischen den medialen und digitalen Transformationen, d.h. bestimmten Wissensformen, die die Schüler*innen lernen von der Gesellschaft, von Freunden, von Sozialität außerhalb der Schule, z.B. über ihr Smartphone. So entstehen Diskurse, die in der Schule noch keine große Relevanz haben. Sie werden in die Schule befördert und dort selektiert.
GZ: Kinder und Jugendliche gelten ja eigentlich als die am einfachsten zu regulierenden Subjekte einer Gesellschaft. Wenn nun nicht mal mehr ihre Kontrolle und Regulierung gelingt, führt das zu einer Verunsicherung?
RN: Natürlich gibt es verschieden Haltungen, die gefährlich oder zu kontrollieren sind. Man kann konfrontiert sein mit Haltungen die destruktiv sind. Das passiert häufig, wie Du weißt, in den schwierigen Situationen der banlieues. Aber nicht nur in französischen Vorstädten kann es wirklich gefährlich werden, Lehrerin zu sein. Wir haben viele Zeugnisse von Kolleginnen, wie schwierig es ist, jeden Tag mit einer Realität von Armut und Exklusion konfrontiert zu sein. Dort kann man natürlich auf undisziplinierte Subjekte treffen. Und häufig werden repressive Lösungen gefunden, d.h. die Ursachen werden nicht wirklich analysiert bzw. nicht gefunden. Denn wenn sie auch nur für einen Augenblick wirklich thematisiert wären, würde das ganze System unserer Gesellschaft in die Luft fliegen! Da haben wir auf jeden Fall so eine Form von Ungehorsam.
Anders verhält es sich mit der kritischen Haltung, d.h. dem Ungehorsam von Schüler*innen, die jetzt auf die Straße gehen, um das Problem des Klimawandels zu berücksichtigen. Ich habe gesagt, dass ich mich über diese Bewegungen freue. Aber sie ist in diesem Moment für niemanden wirklich gefährlich und kann deswegen auch smoothly stattfinden. Die Schulen promovieren ja sogar Fridays for future, denn noch ist der Diskurs so allgemein, dass er gegen niemanden (explizit) geht. Alle Firmen können nach wie vor machen, was sie machen. Gleichzeitig ist die Bewegung für das allgemeine Bewusstsein wichtig, weil sie vielleicht zu einer Transformation der Lebensformen, der Ästhetik der Existenz führt.
Aber in beiden Fällen haben wir undisziplinierte Haltungen. Eine ist gefährlich, flieht in alle Richtungen und wird reprimiert, die andere ist im Moment noch nicht so gefährlich und wird bisher erlebt, als ob sie eine positive Funktion für die Entwicklung der Gesellschaft haben kann – bis zu dem Punkt, wo ein anderes Bewusstsein entsteht. Vielleicht wird verstanden, dass das Problem der Umwelt von anderen sozialen und politischen Problemen nie getrennt werden kann. Und vielleicht nimmt die Bewegung dann auch eine andere starke politische Form an. Who knows. GZ: In dem von Dir und Marc Rölli 2017 herausgegebenen Buch Vierzig Jahre "Überwachen und Strafen": Zur Aktualität der Foucault'schen Machtanalyse gibt es einen Text von Andreas Reckwitz zum disziplinären Blick. Das ist mir im Zuge meiner Arbeit für das Klassenzimmer natürlich aufgefallen, weil es um den BLICK geht. RN: Disziplin spielt in der Gesellschaft zwar noch eine Rolle, aber was zentral geworden ist, ist etwas anderes: Eine ständige Kontrolle, die nicht mehr nur in den sechs Stunden, in denen die Schülerinnen in der Schule sind, existiert, sondern ständig, 7/7 24/24. In diesem Sinn sind wir vielleicht nicht mehr in einer Disziplinargesellschaft, wie Deleuze sagt, sondern in einer Kontrollgesellschaft. Natürlich existiert Disziplin nach wie vor ¬– die Schule ist noch eine disziplinierende Institution – aber womöglich ist in der heutigen Gesellschaft die ständige Kontrolle relevanter geworden. Die kommt auch durch die neuen Medien, sie normiert das Leben und sagt uns, wie es sein soll – auf ganz verschiedene Weisen. Solche Vorgaben wie Diät, fit zu sein, sind Imperative, die wir von allen Seiten hören, und die versuchen, das Leben zu nivellieren. D.h. der Raum der Schule spielt noch eine Rolle, aber es gibt heute viele andere Elemente, die eine wichtige Funktion in diesen Subjektivierungsprozessen haben. Deswegen existiert ein großer gap zwischen klassischen Wissensformen und neuen Aussprachen. Was in der Schule übermittelt wird, ist nur ein kleiner Teil des Wissens. Andere Formen sind für die Schülerinnen z.T. bedeutender. Und insofern glaube ich, dass diese Kategorie der Kontrollgesellschaft sicherlich eine wichtige Kategorie ist.
GZ: Wenn wir über die Kontrollgesellschaft sprechen, fällt mir auch Selbstkontrolle ein.
RN: Das ist total wichtig. Wenn wir von der Schule reden, kann die Kontrollfunktion immer nur von anderen gespielt werden – die Lehrenden gegenüber den Schüler*innen. Aber in der Kontrollgesellschaft existiert eine Form von Selbstkontrolle und Selbstregulation. Die Regeln werden verkörpert. Man wird der eigene Führer.
GZ: Ich habe den Eindruck, in den social media kontrollieren oder produzieren die user sich durch fotografische Dokumentation im Grunde selbst. Auch hier existiert der kontrollierende BLICK – es ist ja ein sehr Bild-lastiges Medium. Aber was sie ins Netz stellen interessiert die anderen user nicht wirklich. Die Zeitspanne, in der etwas angeschaut wird, ist sehr kurz, und es kann kaum mehr zugeordnet werden, wer welches Bild ins Netz gestellt hat. Was bleibt ist die Hoffnung, gesehen zu werden, die Hoffnung auf den Blick der anderen, der kaum erwidert wird.
RN: Ja...
GZ: In Deinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter des General Intellekt schreibst Du: (...) wir könnten (..) sagen, dass wir die Moderne hinter uns gelassen haben und in eine undefinierte Post-Moderne hinübergewechselt sind. In diesem Durchgang und bei dieser Verschiebung entstehen Figuren des Übergangs, die auch Krisenfiguren sind. (Wir befinden uns in einem) nicht mehr, aber auch ein noch nicht: Das Unbehagen ist Erfahrung des dazwischen. Mich interessiert dieser Begriff des Unbehagens.
RN: Es gibt bestimmte Indizien oder Zeichen, die uns sagen, dass eine Zeit zum Ende gekommen ist. Wir können nicht mehr handeln, als wären wir noch in der Moderne. Aber wo wir genau sind, wie wir diese neue Situation definieren können, ist noch schwierig. Deswegen verwenden wir so oft das Etikett post: Postfeminismus, Postindustrialismus, Poststrukturalismus. Diese ungenaue Definition zeigt eine Krise. Antonio Gramsci benutzte den Begriff interregno, d.h. es ist eine Phase zwischen zwei Momenten. Wir sind uns bewusst, dass wir nicht mehr in der vorigen Zeit sind, dass die Strukturen sich geändert haben, aber wir können unsere Gegenwart oder Aktualität noch nicht definieren. Die Postmoderne war ebenfalls eine total ungenaue Definition. Was die Ästhetik betrifft als Disziplin der Philosophie, die im 18. Jahrhundert entsteht, so kennt sie auch eine Form von Krise. Daher kommt auch der Ausdruck von Freud Das Unbehagen in der Kultur. In der Ästhetik ist das Unbehagen genau diese Situation, wo die künstlerischen Formen nicht mehr die Formen der Moderne sind. In diesem Sinn sprach ich von Unbehagen in der Ästhetik, was übrigens der Titel eines Buches von Jacques Rancière ist.
GZ: Ich habe allerdings den Eindruck, dass in der Bildenden Kunst die Beschäftigung mit der Moderne noch sehr präsent ist, sowohl inhaltlich wie formal. Und ich stelle auch fest, dass Künstler*innen und Künstler, die Dinge anbieten, die sich nicht so sehr an der Ästhetik der Moderne orientieren, Unbehagen hervorrufen.
RN: Jaja
GZ: Woran kannst Du die gesellschaftlichen Veränderungen fest machen, von denen Du gesprochen hast?
RN: Für meine Forschung ist die Transformation der Arbeiterklasse wichtig. Es handelt sich um einen ambivalenten Begriff, weil die neue Arbeiterklasse nicht mehr eine homogene Realität ist. Die Tatsache, dass die Produktion heute auf kognitiven Dimensionen beruht, dass das Gehirn, die Sprache, der Diskurs und sogar die Affekte Grundpfeiler der Produktion des Reichtums sind, d.h. dass sie produktiv geworden sind, all das sind Zeichen einer großen Veränderung der Produktionsweisen. Das bedeutet auch eine Transformation der Subjekte, die heute produktiv sind. Dazu kommt die Tatsache, dass eine Trennung zwischen nicht-produktiver und produktiver Arbeit nicht mehr möglich ist. Anders gesagt, stimmt die Zeit der Produktion mit der Arbeitszeit nicht überein. Wir sind in jedem Moment produktiv, auch in dem Moment wo wir schlafen. Diese Veränderung bringt auch die Transformation der politischen Partizipation mit sich. Wenn heute der Populismus entsteht, und alte Parteien fast nicht mehr existieren, zeigt das auch, dass die politische Repräsentation, wie sie in der Moderne konzipiert wurde, nicht mehr funktioniert. Und wir wissen noch nicht, welche neuen Formen des Politischen entstehen können. Das sind Probleme, die für mich zentral sind. Sicher gibt es auch Zeichen in anderen Bereichen. Nicht zu vergessen sind die großen Fragen, die mit dem Feminismus und De-Kolonialismus entstanden sind.
GZ: Wobei ¬– die materielle Produktivität existiert ja nach wie vor, allerdings sehen wir sie nicht mehr, weil wir sie ausgelagert haben. In Asien oder Afrika wird ja noch wahnsinnig viel manuell gemacht. Wir wollen nur nicht so genau darauf blicken, wie Menschen z.B. mit bloßen Händen seltene Erden aus dem Boden kratzen.
RN: Ja, sie wurde ausgelagert. Dort findet nun vielleicht eine Form der ursprünglichen Akkumulation statt, wie wir sie im letzten Jahrhundert kennen gelernt haben.
GZ: Früher hat es Gruppierungen gegeben, die für bestimmte Dinge einstanden. Heute finden wir uns für Projekte zusammen, aber es wird nicht mehr langfristig gedacht.
RN: Ja, es entsteht eine Fragmentierung der Gesellschaft mit der Position von verschiedenen Singularitäten. Eine politische Repräsentation dieser Differenzen ist ganz schwierig zu realisieren.
GZ: Und was mach die Kunst darin? Dein Text trägt ja den Titel: Das Kunstwerk im Zeitalter des General Intellekt.
RN: Natürlich gibt es verschiedene Künste, auch die Philosophie und Literatur sind Teil des Problems. Es ist ein Regime der Sichtbarkeit – oder Hörbarkeit. Die Kunst versucht, sichtbar zu machen, was noch unsichtbar ist, um Erfahrungen und Gefühle zu produzieren, die unsichtbar sind. So ändert sie die Wahrnehmung der Subjekte. Wir könnten sagen, Kunst versucht, das Unsichtbare des Sichtbaren sichtbar zu machen. Es geht nicht darum, eine andere Welt – im Sinne einer Utopie – vorzustellen, sondern darum, diese Welt anders zu konzipieren, anders zu realisieren. Aber vielleicht ist das auch eine traditionelle, romantische Konzeption der Kunst als eine widerständige Kraft.
Die Funktion von Kunst könnte auch eine Form von Relationalität oder Sozialität sein in einer Gesellschaft, die gerade total fragmentiert ist. Paradoxerweise beruht die kapitalistische Produktion heute auf sozialer Kooperation. Ohne Vernetzung wäre die kapitalistische Produktion inzwischen unmöglich. Gleichzeitig erfordert das Kapital als Geflecht von Beziehungen, dass alle diese Subjekte fragmentiert bleiben –oder zumindest erzeugt es Isolation, Einsamkeit und Fragmentierung. In diesem Sinn kann Kunst vielleicht noch eine andere Art des Zusammenlebens oder ein anderes Beziehungsgefüge schaffen. Das hat natürlich mit Gemeinschaften im Sinne neuer Formen von Identität nichts zu tun, sondern eher mit einer Ästhetik der Existenz.
GZ: Ist dann die Erfahrung Teil des Kunstwerkes? Oder ist das Kunstwerk der Auslöser?
RN: Ich glaube beides. Es ist natürlich schwer, die Kunst zu lokalisieren. Wo beginnt, wo endet sie? Auch ist die Kunst unter die Kontrolle des Kapitals gekommen. Es ist eine Produktion von Waren, wie verschiedene andere Waren.
GZ: Wenn wir noch akzeptieren, dass die Ware, die da produziert wird, Kunst ist. Wir könnten ja auch eine Gegenbehauptung aufstellen und sagen, das wird zwar als Kunst verkauft, ist aber keine mehr.
RN: Es ist keine pessimistische Wertung. Damit wollte ich nur sagen, dass diese Kunst keine widerständige Rolle spielt. Die Kunst kann natürlich einfach die Gesellschaft reproduzieren. Aber an jedem Punkt der Gesellschaft ist immer Widerstand möglich, auch im Feld der Kunst.
GZ: Baldessari soll mal gesagt haben, man könne Kunst nicht lehren, sondern nur Orte schaffen, an denen Kunst geschehen kann. Diesen Ansatz finde ich ganz schön. Wir könnten davon ausgehend auch postulieren, dass die Kunst in einem Beziehungsgeflecht passiert, d.h. dass sie nicht nur von Akteuren gemacht wird, die Künstler sind, sondern auch von denen, die sich zusammen finden durch jemanden, der den Namen Künstler trägt. Das Kunstwerk ist vielleicht unser aktuelles Gespräch, oder der gesamte Zusammenhang von allen Aktivitäten und Akteuren, die Teile dieses Projektes sind – also auch das, was die Schülerinnen und Schüler an körperlichen Erfahrungen und Gedanken mit nach Hause nehmen.
RN: Ja, genau.