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Robert Wilson: Einführung. KVL Bulletin. 2020.

Anfang 1973 gab mir ein Mann namens George Klauber, der ein meiner Professoren am Pratt Institute war, ein Tonband, von dem er glaubte, dass es mich interessieren könnte. Zu dieser Zeit begann ich gerade mit der Arbeit an einem Theaterstück namens DAS LEBEN UND DIE ZEITEN VON JOSEPH STALIN. Das Stück beinhaltete visuelle Landschaften, die auf architektonische Weise in Zeit und Raum angeordnet waren. Es war ein zwölfstündiges Stück, das ich Oper nannte. Ich nahm Georges Tonband mit nach Hause und hörte es mir an.

Ich war fasziniert.

Das Band hatte den Titel "Emily likes the TV". Darauf sprach eine junge Männerstimme, die ständig Wiederholungen und Variationen von Phrasen über Emily erzeugte, die fern-sah. Mir wurde klar, dass die Worte in ein rhythmisches Muster flossen, dessen Logik sich selbst stützte. Es war ein Stück, das ähnlich wie Musik codiert war. Wie eine Kantate oder Fuge arbeitete es mit Konjugationen von Gedanken, die in Variationen wiederholt wurden; Diese werden von klassischen Konstruktionen und einem allgegenwärtigen Sinn für Humor bestimmt. Der Effekt war gleichzeitig inspirierend und charmant.

Ich war beeindruckt und rief George an, um zu fragen, wer die Aufnahme gemacht hatte. Er sagte mir, der Name des jungen Mannes sei Christopher Knowles; dass er in eine Schule im Bundesstaat New York ging und dass seine Eltern in Brooklyn lebten.

Nachdem ich das erfahren hatte, rief ich Chris’ Eltern an, erklärte, wie ich dazu gekommen war die Aufnahme ihres Sohnes zu hören und fragte, ob ich ihn treffen könnte. Sie sagten, er sei fast immer in der Schule und komme nur selten nach New York City.

Die Zeit verging und ich hörte mir immer wieder Chris’ Aufnahme an. Ich ließ sie auch transkribieren. Dadurch entdeckte ich, dass die Konstruktion der Wörter eine starke visuellen Logik hat. Die Worte hatten offensichtlich eine sorgfältige architektonische Struktur, die mit bekannten Bausteinen eine ganz neue Sprache schuf. Es schien auch, dass Chris in der Lage war, Wörter visuell zu komponieren; als ob er die Worte erst aussprach, nachdem er sie bereits klar und deutlich gesehen hatte. Ich sah dies als eine ganz besondere und einzigartige Betrachtung der Sprache mit starken Bezügen zu meiner damaligen Arbeit und meinen Ideen für die Zukunft.

Mehr Zeit verging und kurz vor der Premiere von „Stalin“ an der Brooklyn Academy of Music rief ich wieder Chris' Eltern an. Ich erzählte ihnen von der Aufführung und lud sie ein, Chris mitzubringen. Zum Glück war Chris an diesem Wochenende in der Stadt. Sie sagten, sie würden zur Premiere kommen; aber sicherlich könne Chris nicht die vollen zwölf Stunden bleiben.

Ein paar Minuten vor Beginn der Vorstellung am Eröffnungsabend war ich in meiner Umkleidekabine und bereitete mich auf die Aufführung vor. Es klopfte an der Tür und als ich sie öffnete, standen dort Chris und seine Mutter Barbara Knowles. Sie stellte sich und Chris vor. Ich erinnere mich, dass Chris sehr schüchtern und in sich gekehrt war; Er starrte auf den Boden und vermied den Blickkontakt. Nach einem Moment der Stille sagte ich spontan: "Chris, möchtest du heute Abend in der Oper sein?" - Ich hatte neun Monate lang sorgfältig an diesem Stück gearbeitet. Es war zwölf Stunden lang, hatte eine Besetzung von 125 und keine Minute war improvisiert. Das Theater bietet Platz für 2000 Personen. - Chris antwortete mir nicht, aber seine Mutter fragte: "Was würde er tun?" Ich sagte, ich wüsste es nicht. Wieder herrschte Stille. Wieder fragte ich: "Chris, möchtest du heute Abend in der Oper sein?" Wieder keine Antwort außer der Forderung seiner Mutter: "Was würde er tun?" Ich sagte: "Wir werden es herausfinden."

Inzwischen war es Zeit für die Vorstellung zu beginnen. Mrs. Knowles ging ins Publikum und ich nahm Chris bei der Hand. Wir gingen auf die Bühne hinaus. Ich hatte fast keine Ahnung, was ich tun sollte. Ich begann mit einem Zitat aus Chris’ Aufnahme:

RW
em
m
em
m
emily
emily likes
em
emily likes the
tv
because
because A
CK because b
RW because A
CK because she likes bugs bunny
RW because
CK because she likes mickey mouse
RW because
CK because a
RW because B
because she watches it

Es dauerte ungefähr fünf Minuten. Als wir die Bühne verließen, drehte ich mich zu ihm um und sagte: "Hey Chris, das war ziemlich gut." Chris blieb in sich gekehrt und unverbindlich und starrte schweigend auf den Boden. Ich fragte ihn, ob er im ersten Akt erscheinen möchte.

Wir gingen wieder gemeinsam in den ersten Akt und hielten einen Dialog von einer anderen von Chris' Ausnahmen:

pirup birup pirup birup
pirup birup pirup birup
pirup birup pirup birup
pirup birup pirup birup
pirup birup pirup birup
pirup birup pirup birup
pirup birup pirup birup
pirup birup pirup birup
pirup birup pirup birup

Als wir von der Bühne kamen, war dort Mrs. Knowles und sagte, es sei spät und Zeit für Chris, nach Hause ins Bett zu gehen. Am nächsten Morgen bekam ich einen Anruf von Chris' Vater. Er sagte, Chris habe sich im Theater wirklich amüsiert. Er und seine Frau waren erstaunt und erfreut darüber, dass Chris vor einem großen Theaterpublikum so gut kommunizieren konnte. Aus unserem Auftritt an diesem Tag ergab sich, dass Chris in allen vier Aufführungen von „Stalin“ in New York auftreten konnte.

Nun machte ich mir Sorgen, dass Chris’ einzigartige Talente durch den Lehrplan seiner Schule erstickt werden könnten. Ich arrangierte einen Besuch, der meine Befürchtungen bestätigte. Während der Schulleiter anerkannte, dass Chris außergewöhnliche mathematische Fähigkeiten im Bezug auf Muster und Organisation besaß, wies er seine Werke als Produkt des Unbewussten ab, welche inhaltlich bedeutungslos waren. Als Künstler fand ich, was Chris tat, wunderschön anzusehen und anzuhören. Sein Lehrer betrachtete die Stücke jedoch als Schädlich für seine soziale Entwicklung.

Nach diesem Besuch arbeitete ich daran, dass Chris seine Schule verlassen und nach New York kommen konnte. Zu der Zeit arbeitete ich mit einer Gruppe von Menschen gemeinschaftlich an Theaterprojekten. Es wurde vereinbart, dass Chris kommen und bei mir wohnen konnte. Wir wurden Mitarbeiter und Freunde. Er war Co-Autor einer Show namens A LETTER FOR QUEEN VICTORIA und trat in ganz Europa und New York auf. In den folgenden Jahren haben wir weiter zusammengearbeitet. Chris war Co-Autor von Stücken und seine Texte erschienen in Werken wie der Oper EINSTEIN ON THE BEACH. Ein ganz besonderes Vergnügen waren die Stücke, die Chris und ich als DIALOGS gemeinsam geschrieben und aufgeführt haben. In diesen Werken hat sich Chris als talentierter Performer erwiesen, der jedes Publikum auf der ganzen Welt für sich gewinnen kann. Sein Können resultiert aus einem kultivierten Sinn für Spontanität und Humor. Dies sind Eigenschaften, die auch in seinem persönlichen Kunstwerk vorhanden sind. Selbst in den dunkelsten Farben seiner Bilder oder in der tiefsten Verzweiflung seines Schreibens herrscht Freude.

Ich bin für immer fasziniert von den Entscheidungen, die Chris treffen kann, während er die Kontrolle über eine kontinuierliche und elegante Linie behält. Er hat die einzigartige Fähigkeit, eine Sprache zu sprechen, die sofort verständlich ist. Doch sobald er seine verbale oder visuelle Sprache erfunden hat, zerstört er den Code um neu zu beginnen. Seine Kunst hält die Aufregung der molekularen Reaktion. Sein Schaffen ist immer echt und spiegelt stets seine eigene Vorstellungskraft, seinen Humor und seine guten Absichten wider.

Das Bulletin zur Ausstellung kann hier heruntergeladen werden: www.kunstverein-langenhagen.de/publications